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Die Turkei Und Ihr Stolz

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    DIE TURKEI UND IHR STOLZ
    von Orhan Pamuk

    Die Welt, Deutschland
    1 sept. 2005

    Als Befurworter des turkischen EU-Beitritts kommt man sich manchmal vor
    wie ein Hundebesitzer, der um die Qualitaten seines Tieres weiß und
    angstliche Passanten trotzdem immer wieder vor dem Klaffer beruhigen
    muß: "Der will nur spielen."

    Vor zwei Monaten erst meinte der turkischstammige deutsche Autor
    Feridun Zaimoglu zu den Anfeindungen, denen sich der Schriftsteller
    Orhan Pamuk in seinem Land ausgesetzt sieht: "Man muß den Turken Zeit
    lassen", in wenigen Jahren sei "ungeheuer viel in Bewegung" gekommen,
    "man sollte einiger durchgeknallter Kreispolitiker wegen die Turkei
    nicht an den Pranger stellen." Er hat recht.

    Jener Staatsanwalt, der jetzt Klage gegen Pamuk wegen "Herabsetzung
    des Turkentums" eingereicht hat, ist nicht viel mehr als ein
    nationalistischer Beitrittsgegner, dem ein bewundernswerter Mediencoup
    gelungen ist. "Verunglimpfungsparagraphen" hat jeder Staat (in
    Deutschland ist es § 90 des Strafgesetzbuches), ein hoherer Richter
    hatte die Klage zuvor abgelehnt, zur Verhandlung wird es auch jetzt
    kaum kommen, selbst Pamuk gibt sich gelassen. Und doch: In der Turkei
    ist es also moglich, angeklagt zu werden, weil man sagt: "Man hat hier
    30 000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier." Pamuk ist alles
    andere als ein Radikaler, das Wort "Genozid" nimmt er wohlweislich
    nicht in den Mund. Er hat nur eine Zahl genannt.

    Aber an dieser Zahl hangt ein Jahrzehnte altes, muhsam aufrecht
    erhaltenes Konstrukt. Ataturk trennte sein Land mit einem radikalen
    Schnitt von der osmanischen Vergangenheit und der islamischen Welt,
    indem er den Turken einen Nationalstolz aufoktroyierte, der auf den
    festen Glauben an ein einziges, einiges und unfehlbares turkisches
    Volk baut. Und so wird das turkische Geschichtsbewußtsein bis heute
    nicht vom Verstand gelenkt, sondern von Emotionen, und eine kritische
    Geschichtsschreibung steckt noch in den Kinderschuhen. Das ist
    eine Erklarung, keine Entschuldigung. Die Turkei bewegt sich zwar,
    und einzelne Krafte auf dem Niveau "durchgeknallter Kreispolitiker"
    sollten den Marsch gen Westen nicht aufhalten konnen. Aber klingt
    dieser Appell nicht langsam wie ein Hundebesitzer, der Passanten
    ermutigt, seinen Liebling doch erst einmal besser kennenzulernen?

    Nein, erst muß der Koter aufhoren zu klaffen.

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