Announcement

Collapse
No announcement yet.

Das Kaiserreich duldete 1915 den turkischen Volkermord an den Armen.

Collapse
X
 
  • Filter
  • Time
  • Show
Clear All
new posts

  • Das Kaiserreich duldete 1915 den turkischen Volkermord an den Armen.

    F.A.Z., 20.06.2005, Nr. 140 / Seite 7

    http://www.faz.net/p/Rub991F65F4CB8A45ABB7E21CA45 D75736F/Doc~EEDDE1FEBA52F48D3983F63E60905D16C~ATpl ~Ecommon~Sprintpage.html


    Unbeschreibliches Elend
    Das Wilhelminische Kaiserreich duldete 1915/16 den türkischen Völkermord
    an den Armeniern

    Wolfgang Gust (Herausgeber): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16.
    Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes. Zu
    Klampen Verlag, Springe 2005. 675 Seiten, 39,80 [Euro].

    Die deutsche Regierung wußte sehr genau Bescheid. Sie wußte von
    vorbeitreibenden Toten auf dem Euphrat, von "grauenvollen
    Leichenparaden", Verhören und Folter, Arbeitsbataillonen,
    Konzentrationslagern und Vergewaltigungen. Sie wußte von Frauen, die
    während der Deportationszüge Kinder bekamen und gezwungen wurden, sie
    unter Büschen abzulegen und weiterzulaufen; von Menschen, die auf den
    Märschen in die Syrische Wüste verhungerten; von den drei Zügen, die
    jede Woche mehr als 1500 Menschen aus Aleppo im Südosten des Osmanischen
    Reiches abtransportierten. "Es ist", schrieb der Konsul in Aleppo,
    Walter Rößler, im September 1915 an Reichskanzler Theobald von Bethmann
    Hollweg, "ein Bild unbeschreiblichen Elends".

    Diplomaten wie Rößler zeichneten dieses Bild für die Regierung in Berlin
    nach. Das Auswärtige Amt und der Reichskanzler erhielten in den ersten
    Jahren des Ersten Weltkriegs eine große Zahl von Berichten über den
    Völkermord an den Armeniern aus dem Osmanischen Reich. Mit einer reichen
    Auswahl dieser vom Auswärtigen Amt gesammelten Dokumente gibt der Band
    Zeugnis über das Leid eines Volkes, das vor dem Ersten Weltkrieg rund
    zwei Millionen Menschen umfaßte und 1915/16 im ersten Völkermord des 20.
    Jahrhunderts um die Hälfte schrumpfte.

    Die Lektüre veranschaulicht zugleich die Mitverantwortung des
    Kaiserreichs, des wichtigsten Alliierten des Osmanischen Reiches im
    Ersten Weltkrieg. Die Dokumente waren nicht für den Außengebrauch
    vorgesehen. Sie sind daher weitgehend unmittelbar und unverstellt. Oft
    sind die Texte so anschaulich, daß sie den Leser schaudern lassen. Das
    Bild, das sich aus den Texten zusammensetzt, ist jedoch überwiegend
    einseitig. Dokumentiert wird im wesentlichen, was Beobachter im
    Osmanischen Reich sahen, erlebten, empfanden und dachten. Reaktionen der
    Reichsregierung auf diese Berichte fehlen weitgehend.

    Schon damals protestierten Deutsche gegen das Vorgehen der
    jungtürkischen Regierung. "Solche Maßregeln", schrieb der
    Armenier-Freund Johannes Lepsius am 22. Juni 1915 an das Auswärtige Amt,
    "die nur in den Deportationen der alten Assyrer ihresgleichen haben,
    sind durch militärische Zwecke nicht zu rechtfertigen, sondern laufen
    auf verschleierte Christenmassacres hinaus." Der Theologe Lepsius,
    Vorsitzender der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, brachte gleich nach
    Kriegsende ein Werk mit Dokumenten des Auswärtigen Amts zu Armenien
    heraus. Der Band sollte die deutsche Position während der Pariser
    Friedensverhandlungen verbessern. Jene Aspekte, die eine deutsche
    Mitschuld nahelegen, tilgte Lepsius daher weitgehend. Diese in der
    frühen Publikation fehlenden Dokumente wurden jetzt erstmals veröffentlicht.

    Die deutsche Regierung war 1915/16 entschlossen, die Massaker des
    Verbündeten an den Armeniern zu dulden, und versuchte, Kritiker wie
    Lepsius möglichst kleinzuhalten. Der Botschafter in Konstantinopel, Hans
    Freiherr von Wangenheim, berichtete am 2. Juli 1915: "Die mitgeteilten
    Äußerungen des Dr. Lepsius zur armenischen Frage lassen befürchten, daß
    seine Reise hierher in diesem Augenblick uns schwere Ungelegenheiten
    namentlich auch durch Einblick in die schlimme Lage der Armenier
    bereiten und unsere andersweitigen wichtigeren Interessen schädigen
    kann." Lepsius durfte dann zwar fahren, mußte aber versprechen, sich
    sofort nach der Ankunft auf der Botschaft zu melden und deren Weisungen
    strikt zu befolgen.

    Die Frage, welche Verantwortung das Deutsche Reich für die Verschleppung
    und Ermordung der Armenier trage und wie diese Verantwortung von außen
    wahrgenommen werde, blitzt im Schriftverkehr zwischen den Konsulaten und
    Botschaften im Osmanischen Reich, dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt
    immer wieder auf. Mitunter muß mit Blick auf die Dokumente nicht nur von
    einer Mitschuld des Deutschen Reiches, sondern sogar von Mittäterschaft
    gesprochen werden. Ein Beispiel dafür ist eine Unterschrift des
    Oberstleutnants Böttrich, Chef des Verkehrswesens (Eisenbahn-Abteilung)
    im türkischen Großen Hauptquartier, vom Oktober 1915. Böttrich setzte
    sie eigenhändig unter einen Befehl zur Deportation armenischer
    Eisenbahnarbeiter. Der Stellvertretende Direktor der Bagdadbahn, Franz
    J. Günther, schrieb über dieses Schriftstück: "Unsere Gegner werden
    einmal viel Geld bezahlen, um dieses Schriftstück zu besitzen." Mit
    jener Unterschrift eines Mitglieds der Militärmission - so vermutete
    Günther - könnten die anderen Mächte später einmal beweisen, "daßdie
    Deutschen nicht allein nichts getan haben, um die Armenierverfolgung zu
    verhüten, sondern daß gewisse Befehle zu diesem Ziel sogar von ihnen
    ausgegangen sind".

    Nicht alle Diplomaten beobachteten eine Stimmung im Osmanischen Reich,
    die den Deutschen aktive Mittäterschaft am Völkermord zuschrieb. Oft
    wurde die Rolle auch als eine weitgehend passive gesehen, mit der sich
    das Reich gleichwohl ebenfalls schuldig machte. Der Vizekonsul in
    Mossul, Walter Holstein, berichtete der Botschaft in Konstantinopel im
    August 1915: "Hier sind die Äußerungen, wir seien Urheber der
    Christengreuel, noch nicht zu Ohren gekommen; dagegen ist unter den
    verschiedenen hiesigen anständigen Bevölkerungselementen zweifellos die
    Ansicht vertreten, wir täten nichts, damit die Schuldigen bestraft
    werden und damit die Greueltaten endlich aufhören."

    Diejenigen, die sich für ein Einschreiten Deutschlands zugunsten des
    armenischen Volkes aussprachen, argumentierten nicht nur mit dem Leid
    der Armenier. Sie warnten auch davor, daß der Ruf des Deutschen Reiches
    in Gefahr sei. Konsul Rößler empfahl Bethmann Hollweg am 27. Juli 1915,
    türkische Erklärungen zur "Armenierfrage" nicht weiter in der deutschen
    Presse zu veröffentlichen, da die Gefahr bestehe, "daß wir durch unseren
    Verbündeten kompromittiert werden". Die Behandlung des armenischen
    Volkes werde von weiten Kreisen der Bevölkerung, auch der muslimischen,
    auf deutsche Einwirkung bei der türkischen Regierung zurückgeführt: "Es
    heißt, Deutschland sei Anlaß zu dem Entschluß der türkischen Regierung,
    das armenische Volk bis zur völligen Bedeutungslosigkeit zu zerschmettern."

    Die türkische Regierung werde, so Rößler, vermutlich alles tun, um
    dieser Ansicht Vorschub zu leisten: "Sie wird froh sein, das Odium ihrer
    Maßregeln auf uns abwälzen zu können. Deutschlands Name aber wird
    dadurch in den Schmutz gezogen." Seinem Schreiben fügte Rößler einen
    Bericht eines Bediensteten der Bagdadbahn bei. Dieser berichtet so
    anschaulich von Vergewaltigungen und von ans Ufer geschwemmten Toten,
    die von Hunden und Geiern gefressen wurden, daß Rößler die Einzelheiten
    in seinem eigenen Schreiben nicht wiederholen wollte.

    Der Geschäftsträger in Konstantinopel, Konstantin Freiherr von Neurath
    (der spätere Reichsaußenminister in den Jahren 1932 bis 1938), erwog in
    einem Brief an Bethmann Hollweg vom 26. Oktober 1915 das mögliche
    Verhalten des Deutschen Reichs nach Kriegsende. Zwar stelle der Ausfall
    der Armenier als Vermittler des europäischen Handels einen Verlust dar.
    "Das Vertrauen der Türkei ist aber für uns zu wichtig, um es durch den
    Versuch, den Armeniern ihre alte Rolle wiederzuverschaffen, zu
    gefährden." Um Argwohn der Türken zu vermeiden, dürfe die Hilfstätigkeit
    proarmenischer Vereine im Krieg nicht über das hinausgehen, was vor
    Kriegsbeginn 1914 geschehen sei. Auch das zeigt, daß sich die deutsche
    Haltung gegenüber einem hilflosen Volk pragmatischen Erwägungen fügte.
    Florentine Fritzen



    © F.A.Z. Electronic Media GmbH 2001 - 2005
    Dies ist ein Ausdruck aus www.faz.net
Working...
X