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Schuldflucht: Deutsche, Turken und der Volkermord an den Armeniern

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  • Schuldflucht: Deutsche, Turken und der Volkermord an den Armeniern

    Frankfurter Allgemeine Zeitung
    20. Juni 2005

    Massage an Kanzlers Rückgrat;
    Schuldflucht: Deutsche, Türken und der Völkermord an den Armeniern

    SERIE: Aufmacher Feuilleton

    von Mihran Dabag


    Gerade haben wir die Gedenkfeiern zum sechzigsten Jahrestag der
    Befreiung symbolisch mit der Eröffnung des "Denkmals für die
    ermordeten Juden Europas" in Berlin abschließen können, da stellt
    unerwartet die Erinnerung an einen ganz anderen Völkermord generelle
    Fragen an die Formen der Erinnerung in Deutschland: die Vernichtung
    der Armenier im Osmanischen Reich in den Jahren 1915/16, die sich
    2005 zum neunzigsten Mal jährt. Ein Völkermord, der eng mit der
    Geschichte Europas und insbesondere Deutschlands verwoben ist. Denn
    vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit bezeichnete dieser im
    Schatten des Ersten Weltkriegs verübte systematische Genozid einen
    Wendepunkt in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: Mit diesem
    Völkermord wurde offenbar, daß die Vernichtung einer gesamten
    Bevölkerungsgruppe nicht allein denkbar, sondern auch durchführbar
    ist.

    Ausgelöst wurde die öffentliche Diskussion im vergangenen Januar
    durch die Streichung des Völkermords an den Armeniern als
    Unterrichtsthema aus den Rahmenlehrplänen des Landes Brandenburg -
    dies auf Intervention der diplomatischen Vertretung der Türkei in
    Deutschland. Im April beschäftigte sich erstmals auch der Bundestag
    mit diesem Völkermord. Dabei zeigte sich ein fraktionsübergreifendes
    Einvernehmen, die Türkei, die den Tatbestand des Genozids bis heute
    nachdrücklich abstreitet, dazu aufzufordern, sich diesem Thema
    endlich zu stellen. Und auch der Mitverantwortung Deutschlands - als
    Bündnispartner des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg bereits
    früh über Ausmaß und Ziel der Deportationsmaßnahmen informiert -
    wurde in der Diskussion explizit gedacht. Gleichzeitig deutete man
    einen Ausweg an: Eine türkisch-armenische Historikerkommission solle
    sich dieser Frage widmen. Dabei hatte doch gerade die
    brandenburgische Schulbuchaffäre gezeigt, daß Deutschland eine
    Verantwortung nicht dort hat, wo es darum geht, eine Aussöhnung
    zwischen Türken und Armeniern einzuleiten - ungeachtet der Tatsache,
    daß eine solche Aussöhnung der deutschen Befürwortung eines
    EU-Beitritts der Türkei Legitimation verleiht -, sondern dort, wo es
    darum geht, die eigene Duldung der Leugnung zu beenden.

    Schließlich wurde ein von allen Fraktionen getragener Antrag vom
    Bundestag angenommen, in dem eine Rhetorik der Verbeugung vor den
    Opfern geübt wurde. Allerdings handelte es sich um eine
    stillschweigende Rhetorik, da der Antrag ohne vorherige Aussprache,
    in der Bedauern, Klage und die Aufforderung zur Anerkennung hätten
    artikuliert werden können, beschlossen wurde. Doch löste der Beschluß
    dieses von allen Fraktionen unterstützten Antrages auf türkischer
    Seite Unruhe aus. Mit einem Meer türkischer Flaggen wurde gestern in
    Berlin der Solidarität mit der ebenso unbeugsamen wie entschlossenen
    Haltung der türkischen Politik Ausdruck verliehen. Der türkische
    Ministerpräsident Erdogan warf Bundeskanzler Schröder
    "Rückgratlosigkeit" und eine "falsche und häßliche Politik" vor. Er
    hingegen bevorzuge eine "knochige Politik", die offen dazu steht,
    eine Arbeit am eigenen Geschichtsbild als überflüssig anzusehen.

    Auffällig ist gerade in diesem Kontext jedoch auch das Einvernehmen
    der Wissenschaftler und Intellektuellen in Deutschland, die sich -
    bis auf wenige Ausnahmen - vornehm in Schweigen hüllten. Wie ist
    dieses Schweigen zu erklären? Bedarf es schlicht keines
    intellektuellen Diskurses, wenn "hinten, weit, in der Türkei, die
    Völker aufeinanderschlagen"? Meint man also, daß die Vernichtung der
    Armenier ein Ereignis in der Peripherie war, eine asiatische Tat, die
    nicht zur Geschichte Deutschlands, Europas und der zivilisierten Welt
    gehöre? Oder hat die Verweigerung einer Diskussion, zu der dieser
    Völkermord die Erinnerungskultur in Deutschland herausfordert,
    möglicherweise gerade mit den spezifischen Formen dieser Erinnerung -
    und ihren Zielen - zu tun?

    Erinnerung wird heute bevorzugt dort ins Spiel gebracht, wo es nicht
    mehr um die Frage eines spezifischen Erbes geht, sondern um die Frage
    nach dem Gemeinsamen von Geschichte, Erfahrung und Identität, und
    zwar um die Gemeinsamkeit Europas und das Gemeinsame globalisierender
    Gesellschaften. Als Fundament einer solchen Identität gestaltenden
    Erinnerung werden die "Erfahrungen der totalitären Regime des
    zwanzigsten Jahrhunderts" und der Holocaust definiert, so im Mai 2003
    von Jürgen Habermas und Jacques Derrida in einem gemeinsamen Artikel
    über die Zukunft Europas (F.A.Z. vom 31. Mai 2003). Der Blick richtet
    sich dabei nicht länger zuvörderst auf die nationalsozialistische
    Gewaltpolitik, sondern auf den Stellenwert des Holocaust als eines
    gesamteuropäischen Symbols. Ziel ist die Konstitution eines
    Konsensgedächtnisses, dessen Aufgabe es sein soll, zu einer
    Humanisierung zu führen: In einer als universal anschlußfähigen
    erinnerungspolitischen Formel Holocaust sollen alle Gewalterfahrungen
    aufgehoben und zukünftige Gewalttaten verhindert werden.

    Was aber bedeutet eine solche Universalisierung des Holocaust? Was
    bedeutet sie für die Zukunft der Erinnerung, was für die Erinnerung
    an andere Gewalterfahrungen und vor allem: Was bedingt sie für die
    Erinnerung an den Holocaust selbst? Besteht nicht die Gefahr, daß im
    Prozeß der Universalisierung die Erinnerung an den Holocaust aus dem
    ihr eigenen unmittelbaren Kontext gelöst, von der ihr zugrunde
    liegenden Erfahrung entfernt und somit letztlich entleert wird? Denn
    mit der Universalisierung tritt an die Stelle der Erinnerung, die
    durch einen dynamischen, gelebten Prozeß der Rekonstruktion bewahrt
    wird, ein gestaltendes Gedenken.

    Erinnerung ist immer eine Erzählung, die auf Erfahrungen gründet:
    unmittelbarer ebenso wie übermittelter Erfahrung. Erinnerungen sind
    Orientierungen, und sie haben immer mit Identifizierungen zu tun.
    Erinnerung ist an Träger gebunden. Das Gedenken hingegen folgt
    Setzungen von Geschichte und Identität, das Gedenken soll nicht
    zuvörderst bewahren, sondern integrieren und unter gemeinsamen
    universalen Werten harmonisieren. Erinnerung kann nicht universal
    sein - und ein Gedächtnis kann nur dann universal sein, wenn es
    erinnerungslos ist, wenn es sich ablöst von jenen Erfahrungen, die in
    den Erzählungen bewahrt sind.

    Ein übergeordnetes, universales Gedenken an den Holocaust, losgelöst
    von den Erfahrungen der Opfer und von denen der Täter und der
    nachfolgenden Generationen, müßte also frei sein von jeder Erfahrung
    und Erfahrbarkeit. Als universalisierte Singularität, erstarrt zu
    einem abstrakten Gedenkemblem für kollektive Gewalt, würde diese
    Formel Holocaust allein noch auf einen moralischen Imperativ
    verweisen. Im Fluchtpunkt dieser Gedenkformel, die sicherlich im
    Berliner Mahnmal auch zementiert worden ist, stehen nicht die Opfer -
    nicht einmal mehr die Täter -, sondern allein die Tat. So könnte die
    Universalisierung eines opfer- und täterlosen Holocaust sich
    letztlich als eine Leerformel erweisen, die jedoch gut geeignet ist
    zur - intendierten? - Überwindung der Erinnerung an den Holocaust
    selbst.

    Es ist diese zur Homogenität der Gedenkinhalte drängende
    Erinnerungspolitik, die heute gestört wird durch andere Erfahrungen
    von Verfolgungen, kollektiver Gewalt und Vernichtung. Und diese
    Erfahrungen scheinen um so störender, je enger sie mit den Inhalten
    des offiziellen deutschen Gedenkens selbst verbunden sind. Die
    intensive Beschäftigung mit dem Holocaust und die vorbildhafte
    Aufarbeitung der eigenen Geschichte haben den Blick auf Deutschland
    nachhaltig verändert. Dies gilt sicherlich für das deutsche
    Selbstbild wie auch für die Wahrnehmung Deutschlands aus der
    Außenperspektive. Daß die Bundesrepublik sich so explizit in die
    historische Verantwortung stellte, hat zur Entstehung eines anderen
    Deutschland beigetragen und jüngst auch eine neue Rolle und eine neue
    Stärke Deutschlands in der internationalen Politik legitimiert. Mit
    der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern drängt nun ein Thema
    in die Diskussion, das einerseits eine neuerliche Beschäftigung mit
    dieser - endlich vergangenen - eigenen Geschichte verlangt und zum
    anderen aber auch eine Herausforderung an die aktuelle Politik
    bedeutet.

    Vielleicht ist die Enthaltsamkeit der deutschen Intellektuellen
    bezüglich der Diskussionen über den Ort des Genozids an den Armeniern
    in der europäischen beziehungsweise globalen Erinnerungskultur ja
    auch damit zu erklären, daß man befürchtet, daß jene so mühsam
    erarbeiteten Sätze des Aufarbeitungsbeweises nicht hinreichend sein
    könnten - und daß man schon wieder vor der Aufgabe steht, sich mit
    deutscher Schuld konfrontiert sehen zu müssen.

    Bisher war es möglich, "schuldig" zu sagen, ohne es zu meinen, weil
    die Politik ein Schuldbekenntnis, das als Legitimationsbasis eines
    Nachkriegsdeutschland fungierte, ritualisiert und institutionalisiert
    hatte. Nach dem Bau des Denkmals in Berlin konnte man hoffen,
    "schuldig" sagen zu können in der Beruhigung, daß man endlich nicht
    mehr in den Geschichts- und Generationenzyklus der Verantwortung für
    jene Geschichte gehört; daß es nun um eine vergehende, abgeschlossene
    Geschichte geht, in deren Gedenken man endlich auch selbst (als
    Opfer) eingeschlossen ist.

    Nun muß man sich jedoch damit konfrontieren lassen, daß schon wieder
    ein Recht auf Erinnerung eingefordert wird. Und diese neue
    Aufforderung zeigt, daß man Erinnerung nicht mehr länger als
    subjektives, interessengeleitetes Ansinnen abschieben kann, sondern
    daß die Frage nach dem Ort der Erinnerung zu einer legitimen Frage an
    die gegenwärtigen Gesellschaftskonstruktionen wird.

    Fortsetzung auf Seite 37.

    Denn mit der Frage nach der Erinnerung sind Wissensinhalte unserer
    heutigen, globalen Gesellschaft verknüpft, Fragen nach
    Gemeinschafts-, Minderheiten- und Toleranzkonzeptionen. So verbindet
    sich mit der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern auch eine
    Herausforderung an die aktuelle Politik. Der Blick richtet sich hier
    natürlich nicht zuletzt auf die Haltung, mit der wir uns in
    Deutschland der Integration der Türkei in die Europäische Union
    stellen.

    Kann die Bundesrepublik wirklich die Aufnahme einer Türkei
    befürworten, die hinsichtlich ihrer Geschichte eine Haltung einnimmt,
    die einer Aufarbeitung von Gewalt und Verbrechen, wie sie in
    Deutschland und nun auch Europa im Gedenken an den Holocaust
    verbindlich geworden ist, diametral entgegensteht? Eine Politik unter
    dem Postulat, die eigenen Interessen mit einem Handeln für eine
    "Zukunft der Türkei" zu verbinden, wie sie das Wilhelminische
    Deutschland seit den 1890er Jahren verfolgt hat - und dabei die
    anderen Bevölkerungsgruppen in der Türkei, damals Armenier und
    Aramäer, heute die Kurden, zu vernachlässigen oder ausschließlich als
    Störgrößen wahrzunehmen -, scheint sich gegenwärtig fortzusetzen.
    Auch heute wird wieder ausschließlich für eine Zukunft gehandelt,
    wenn die Forderungen der Armenier nach einer Anerkennung ihrer
    Geschichte den Interessen und der Zukunft der europäisierten
    Nationalstaaten geopfert wird. Eine intellektuelle Diskussion um die
    Erinnerung an den Genozid an den Armeniern würde zu einer
    Neubewertung der Politik gegenüber der Türkei herausfordern, einer
    Politik, die der vor dem Hintergrund der Erfahrung des Holocaust und
    der Verpflichtung zur Erinnerung erarbeiteten Perspektive Europas
    endlich Rechnung trägt. So zeigt der Appell, diese Erinnerung
    zuzulassen, daß Erinnern nicht dazu auffordert, sich mit den Opfern
    gleichzusetzen, sondern das Opfer als Opfer zu akzeptieren: als Zeuge
    der Verfolgung ebenso wie als Stimme eines Rechts auf eine eigene,
    akzeptierte Stellung, einen akzeptierten politischen Ort in der Welt.

    Bedeutung und Tragfähigkeit einer europäischen und dann globalen
    Erinnerungskultur werden daran zu messen sein, ob eine Pluralität der
    Erinnerungen zugelassen wird, ja ob man bereit ist, dieses Gedächtnis
    auf der Pluralität der Erinnerungen zu gründen. So ist der Umgang mit
    der armenischen Erfahrung auch ein Prüfstein dafür, ob die
    Diskussionen über Erinnerung, Gedächtnis und Gedenken mehr gewesen
    sind als eine akademische Übung, mehr als eine virtuose
    erinnerungspolitische Rhetorik.

    Der Autor ist Direktor des Instituts für Diaspora- und
    Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum.

    Wer das Gedenken wie im Fall des Holocaust globalisiert und
    internationalisiert, der weicht vor dem Erinnern an das Konkrete von
    Schrecken, Terror und Völkermord in Rituale und Mahnmale aus. Der
    türkische Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 sollte die
    Europäer dazu bringen, sich nicht mit allen Opfern gleichzusetzen,
    sondern bestimmte Opfer als Opfer erstmal wahrzunehmen.

    From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress
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