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A German complaint from 1903 over massacre of 1000s of Armenians by

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  • A German complaint from 1903 over massacre of 1000s of Armenians by

    Frankfurter Allgemeine Zeitung, Deutschland
    2. Juli 2005

    Georg Brandes;
    Appell an Europas Gewissen; Eine Klage aus dem Jahr 1903 über die
    Massaker, denen lange vor dem Ersten Weltkrieg schon große Gruppen
    des armenischen Volkes zum Opfer fielen


    "Armenien und Europa" ist ein Vortrag, der in Berlin am 2. Februar
    1903 gehalten wurde. Das Deutsche Reich war eng verbündet mit dem
    türkisch-ottomanischen, das hier aus gutem Grund zum Gegenstand der
    Polemik wird: In dem Jahrzehnt, das der Rede von Georg Brandes
    vorausging, fielen den Truppen des Sultans mindestens
    dreihunderttausend der etwa drei Millionen Armenier - die auf
    türkischem, persischem und russischem Staatsgebiet lebten - zum
    Opfer; 1909 folgten neue türkische Massaker, für die Zeit nach 1914
    wird eine Zahl von einer Million armenischer Opfer der türkischen
    Politik angenommen. Der Redner sprach vor armenischen Studenten in
    Berlin. Georg Brandes, in Deutschland vor allem als der Entdecker
    Nietzsches für ein europäisches Publikum bekanntgeworden, wurde 1842
    in Kopenhagen unter dem Namen Morris Cohen geboren und starb dort
    1927. Sein Werk widmete sich in Monographien unter anderem Goethe,
    Disraeli und Ferdinand Lassalle. Während des Ersten Weltkrieges
    sprach er sich gegen nationalistische Übersteigerungen auf beiden
    Seiten aus, der These von der Alleinschuld des Deutschen Reiches am
    Kriegsausbruch trat er couragiert entgegen.

    F.A.Z.

    Daß ich einer der europäischen Schriftsteller bin, die sehr früh
    schon ihre Stimme für Armenien erhoben, sehr früh schon versucht
    haben, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die schrecklichste und
    empörendste Völkertragödie in neuerer Zeit hinzulenken, diesem
    Umstand verdanke ich die Ehre, vom Verein armenischer Studenten in
    Europa aufgefordert worden zu sein, hier heute abend das Wort zu
    ergreifen.

    Ich neige nicht dazu, die mündlichen Worte eines einfachen Autors zu
    überschätzen, und weiß sehr wohl, daß in großpolitischen Fragen die
    Entscheidung bei den Machthabern liegt. Aber selbst die Machthaber
    sind in unseren Tagen gezwungen, auf eine starke und einstimmig
    geäußerte öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen, und deshalb gilt
    es, so lange zu rufen, bis eine solche öffentliche Meinung in allen
    Ländern erwacht. Doch besonders im Deutschen Reich. Wie Sie alle
    wissen, ist das türkische Armenien während der letzten zehn Jahre der
    Schauplatz solcher Greuel gewesen, derengleichen die beglaubigte
    Weltgeschichte kaum aus den rohesten Zeiten vermeldet. Bevor wir es
    erlebten, hatte keiner für möglich gehalten, daß eine ganze
    Bevölkerung solchermaßen Gegenstand von Aussaugungen, Folter und
    Massenmord werden könnte. Das Blut von Hunderttausenden schreit zum
    Himmel.

    Ich weiß, daß die Türkei eine mit Deutschland freundschaftlich
    verbundene Macht ist. Ebendas hat der türkischen Regierung freie Hand
    gelassen. Ich will mit keiner Silbe von der Persönlichkeit des
    Sultans sprechen. Aber die Freundschaft, die sein Glück ausmacht,
    kann für Fürsprecher der Menschlichkeit nicht davon abhalten, vor das
    deutsche Publikum zu treten. Ungarn ist durch Stammesverwandtschaft
    und Überlieferungen, die sich über Jahrhunderte erstrecken, mit der
    Türkei freundschaftlich verbunden. Dennoch wurde der tapfere
    Vorkämpfer für die Sache Armeniens, Pierre Quillard, in Budapest
    aufmerksam angehört, als er kürzlich, Mitte Dezember, den Ungarn
    Tatsachen aus Armeniens neuester Geschichte vorlegte. Das deutsche
    Volk steht der Türkei sehr viel ferner als das magyarische, und als
    Ganzes ist es weitaus mächtiger. Eine Erhebung der öffentlichen
    Meinung in Deutschland für die armenische Sache hätte jetzt
    vielleicht entscheidende Bedeutung. Wofern die Armenier gar nichts
    anderes für sich hätten als ihr Unglück, es wäre unmöglich, ihnen
    Teilnahme zu verweigern. Sie haben erlitten, was fast nicht gesagt,
    geschweige denn beschrieben werden kann, weil die Zuhörer sich die
    Ohren zuhalten würden.

    Sagt man: Dreihunderttausend Leben sind ausgelöscht worden, teils
    durch Gewalttaten, teils durch Hungersnot und Frost, so macht das
    einen geringen Eindruck; es setzt die Einbildungskraft nicht in
    Bewegung. Was zum Beispiel nützt die Mitteilung, daß im August 1894
    in den Dörfern bei Musj ein Massenmord stattfand, der drei Wochen
    dauerte, daß Männer, Frauen, Kinder ohne Unterschied niedergesäbelt
    wurden, daß überall den Frauen Gewalt angetan wurde, ehe sie starben,
    daß man erst bald zweihundert, bald dreihundert Frauen auf einmal den
    Soldaten übergab, ehe sie mit Bajonetten und Säbeln getötet wurden!
    Was nützt es, mitzuteilen, was ein deutscher Reisender an Ort und
    Stelle erfahren hat: In Kendránz hatten die Kurden einander ihr Wort
    darauf gegeben, jedes weibliche Wesen vom fünfjährigen Kind an
    aufwärts zu vergewaltigen! Oder zu sagen: An einem anderen Ort wurden
    nahezu sechzigtausend junge Frauen und Mädchen in eine kleine Kirche
    eingeschlossen, den Soldaten ausgeliefert und schließlich von ihnen
    getötet. Ein Blutstrom floß unter der Kirchentür heraus.

    Will man einen unvergeßlichen Eindruck machen, so muß man ins
    einzelne gehen. Daß hunderttausend ermordet worden sind, wirkt
    weniger, als wenn ein einzelner gemordet wurde. Eine Frau fiel auf
    die Knie und flehte die Soldaten an, ihr Leben zu schonen - in
    Wirklichkeit zwei Leben. Ist es ein Junge oder ein Mädchen? riefen
    die Soldaten. Und sie wetteten sieben Medsjidié auf einen Jungen.
    Schauen wir doch nach! Und man schlitzte ihr den Bauch auf. Der es
    erzählte, kann alle Umstände angeben und die Namen der Zeugen nennen.
    Andernorts haben die Kurden gewettet, ob sie mit einem Schlag vier
    Kleinkindern den Kopf abhauen könnten, und haben es vor den Augen der
    Mütter getan. In Trebisund ging am ersten Tag des Blutbads ein
    Armenier aus einer Bäckerei, wo er Brot für seine kranke Frau und
    seine Kinder gekauft hatte. Er wurde von einer wütenden Bande
    überrascht. Er bittet um Gnade. Man verspricht trügerischerweise, ihm
    nichts Böses anzutun. Er glaubt es und dankt zutiefst. Aber man
    machte sich nur lustig über ihn. Man bindet seine Füße zusammen. Man
    haut seine eine Hand ab und schlägt ihm mit dieser blutigen Hand ins
    Gesicht. Dann haut man die andere Hand ab. Man fordert ihn danach
    auf, das Zeichen des Kreuzes zu machen, während andere ihn ersuchen,
    lauter zu rufen, damit sein Gott ihn hören kann. Einer schneidet ihm
    die Ohren ab, stopft sie erst in seinen Mund hinein und wirft sie ihm
    dann ins Gesicht. Ein anderer ruft: Der Mund des Effendi muß bestraft
    werden, weil er einen solchen Leckerbissen verschmäht hat. Und man
    schneidet seine Zunge heraus. Jetzt kann er nicht mehr
    gotteslästerliche Reden führen. Mit der Spitze eines Dolches läßt
    einer sein Auge aus der Augenhöhle springen. Das schreckliche
    verzerrte Gesicht, die Zuckungen des armen Leibes machen diese
    Fanatiker noch wilder; auch das andere Auge lassen sie springen und
    hauen ihm die Füße ab, ehe sie ihm mit einem Dolchstich in die Kehle
    den Gnadenstoß geben.

    In einem Bericht des englischen Konsuls in Erserúm wird eine Szene
    aus dem Dorf Semál noch vor dem Blutbad beschrieben. Der Armenier Azó
    hatte sich geweigert, einige der besten Männer des Ortes anzuzeigen.
    Daraufhin ließen der Richter Talib Effendi und zwei türkische
    Hauptleute ihn eine ganze Nacht hindurch martern. Erst bekam er die
    Bastonade. Dann band man ihn nackt mit ausgebreiteten Armen an zwei
    Balken, und das Auspeitschen begann. Der Unglückliche konnte kein
    Glied rühren. Die Zuckungen in seinem Gesicht verrieten seine Leiden.
    Je mehr er schrie, desto mehr schlug man. Er flehte seine Büttel an,
    ihn doch zu töten. Er versuchte, seinen Schädel an den Balken zu
    zerschlagen. Das wurde verhindert. Als er noch immer nicht Zeugnis
    gegen seine Eigenen ablegen, sich nicht mit unschuldigem Blut
    beflecken wollte, ließ Talib erst seine Barthaare mit Zangen
    ausreißen, dann fing man an, seinen Leib mit glühenden Eisen zu
    traktieren, verbrannte ihn an den Händen, im Gesicht, an den Füßen
    und an noch anderen Körperteilen. Mit einer glühenden Zange
    verbrannte man seine Zunge. Dreimal fiel er in Ohnmacht, blieb aber
    standhaft. Im Nebenzimmer hörten seine Frau und seine Kinder, vor
    Grauen erstarrt, sein Jammern.

    Und nun der Aufenthalt in den Gefängnissen, zum Beispiel in Bitlis,
    wo die Gefangenen, die zu Hunderten zusammengepfercht waren, in dem
    fürchterlichen Schmutz bisweilen weder liegen noch sitzen konnten,
    noch dazu hungerten und oft gefoltert wurden.

    Ich weiß es und habe es sehr wohl gespürt: Sie haben mir ungerne
    zugehört. Sie haben sich Gewalt antun müssen, um mir nicht zuzurufen:
    Genug! Genug! Ich habe auch wohl bemerkt, daß viele Damen den Saal
    verlassen haben. Es ist gräßlich für Sie gewesen, sich das anzuhören.
    So bitte ich Sie denn, die Greuel, die ich Ihnen mitgeteilt habe, mit
    einigen hunderttausend zu vervielfachen und zu bedenken: Was die
    Berliner Damen nicht haben ertragen können zu hören, das haben die
    Armenier hunderttausendfach ausgestanden. Das ist in unserer Zeit
    geschehen, im letzten Jahrzehnt, etwa vier bis fünf Tagreisen von
    hier - und wir haben es geschehen lassen, haben nichts dafür getan,
    es abzuwehren. Längst war Europa gewarnt. Die Vorbereitungen für das
    Gemorde in Sassún wurden so öffentlich betrieben, daß der englische
    Konsul in Erserúm in einem langen Bericht um Schutz für die
    armenische Bevölkerung ersuchte. England wolle "sich nicht in die
    inneren Angelegenheiten einer befreundeten Macht einmischen". Das ist
    ständig die Formel. Und was das Unerhörte ist: Nachdem Europa nicht
    mehr in Unwissenheit schwebt, dauert dieser Greuelzustand noch immer
    an.

    Immer noch werden die Armenier ihrer Freiheit beraubt, ausgeplündert,
    mißhandelt, einzeln oder haufenweise niedergesäbelt. Ich könnte
    Hunderte von Beispielen anführen. Ich nenne eins: Am 3. Juli 1900
    umringten fünfhundert Kurden das Dorf Spaghánk. Mit Kugeln, Säbeln,
    Bajonetten legten sie los. Frauen und Kinder liefen den Soldaten
    flehend entgegen. Die kleinen Kinder wurden, noch lebend, auf den
    Bajonettspitzen hochgehoben; die Frauen wurden entkleidet,
    geschändet, ermordet. Dem Dorfpriester, einem achtzigjährigen Greis,
    wurden langsam beide Seiten des Mundes gespalten und die Kinnladen
    herausgerissen. Einer schwangeren Frau namens Timene, die mit dem
    Gemeindevorsteher verheiratet war, wurde der Bauch aufgeschnitten;
    das Kind wurde zerstückelt und die Frau mit fünfzig Messerstichen
    getötet. Wir haben immer gewußt, daß unsere Kultur Vergehen nicht
    ausschloß, nicht Raublust und Bluttat einzelner noch diejenigen
    verbrecherischer Banden. So bedauerlich das war, erschien es uns
    nicht als Gegenbeweis gegen die Kulturstufe, die wir erreicht zu
    haben glaubten. Desgleichen haben wir immer gewußt, daß unsere
    Kultur, selbst in den zivilisiertesten Staaten, nicht das soziale
    Unglück ausschließt, die Armut und die Vernachlässigung der Armen.
    Aber sogar das Elend der schäbigst Gestellten schien uns nicht gegen
    den hohen Stand der Gegenwartskultur zu sprechen.

    Armenien als Vorhut westlicher Zivilisation in Asien.

    Wir haben immer gewußt, was Krieg bedeutet, wie er die Leidenschaften
    erregt, welche Greuel er zeitigt. Aber wir führen heutzutage nicht
    Krieg, wie man ihn in früheren Zeiten führte. Ungerne tun die
    Heerführer der friedlichen Bevölkerung Leid an; gegen Frauen und
    Kinder wird nur unter bestimmten Bedingungen Krieg geführt, wenn zum
    Beispiel Städte bombardiert werden. So spricht denn auch nicht der
    Krieg gegen unsere Gewißheit, auf einer sehr hohen Zivilisationsstufe
    zu stehen. Obwohl wir also die häufigen Verbrechen, die soziale
    Ungerechtigkeit und Grausamkeit, die Rassenfeindschaft und den
    Religionshaß, das Grauen der Kriege einräumen mußten, so blieb doch
    immer ein Vergehen übrig, das uns in unseren Tagen undenkbar schien
    und als ins Altertum oder ins Mittelalter gehörend abgestempelt
    wurde. Damit müssen wir aufhören. Nachdem Europa nicht die Greuel
    verhindert hat, die in Armenien veranstaltet werden und heutzutage
    auch in Makedonien, kann unmöglich behauptet werden, unsere Zeit habe
    in ethischer Hinsicht den finstersten Zeiten der Geschichte etwas
    voraus.

    Ich sagte: Wofern die Armenier gar nichts anderes für sich hätten als
    ihr Unglück, so verdienten sie unsere Teilnahme, unsere Hilfe. Aber
    die Armenier sind eines der ältesten Kulturvölker der Erde mit einer
    fast 4000 Jahre alten Geschichte - ein Kulturvolk, das der
    Zivilisation in seinem Land und mehr noch außerhalb seines Landes
    große Dienste geleistet hat. Wie die Polen sind die Armenier zwischen
    drei große Mächte aufgeteilt. Sie sind Rußland, Persien und der
    Türkei unterworfen - Ländern, deren drei Sprachen die Gebildeten in
    diesem Volk nicht selten außer ihrer eigenen beherrschen, während sie
    außerdem oft eine europäische Sprache verstehen und sprechen. Es ist
    dasjenige der Völker der Ostens, das sich am meisten europäische
    Menschlichkeit angeeignet hat; es war, wie einer seiner besten Söhne,
    Archag Tchobanián, gesagt hat, "die Vorhut der europäischen
    Zivilisation in Asien".

    Obwohl sein Land, das am Wege der Eroberungsvölker Asiens lag, stets
    aufs neue von Fremden überschwemmt und unterdrückt worden ist
    (bereits im Altertum von Assyrern und Medern bis zu den Arabern), hat
    es eine ganz ungewöhnliche Widerstandskraft an den Tag gelegt und
    eine nicht sehr viel geringere Fähigkeit, das Fremde in sich
    aufzunehmen. Das parthischen Könige, die Armenien vom zweiten
    Jahrhundert vor Christus an regierten, waren Armenier geworden. Die
    teilweise ausgezeichneten Könige aus der Familie der Bagratruni, die
    auf sie folgten, waren anscheinend armenisierte Juden; doch ist das
    nicht sicher, da es damals als eine Ehre galt, vom "Haus David"
    abzustammen. Von der ältesten bis zu unserer Zeit hat Armenien
    fremden Völkern große Männer geschenkt. Im byzantinischen Kaiserreich
    waren die Armenier hervorragende Krieger, erneuernde Denker, und ein
    knappes Dutzend der Kaiser war armenischer Abstammung.

    Unter der türkischen Kaiserherrschaft behielten sie ihre Stellung als
    lebenspendendes Element; sie hatten den Handel in ihren Händen,
    zeichneten sich als Künstler, Geschäftsleute und Staatsmänner aus.
    Nubár Pasja, der so lange Ägypten regierte, war ein Armenier, und ein
    Armenier war auch der russische Diktator Loris-Melikov. Da das
    armenische Volk als erstes von allen das Christentum annahm, ist
    seine alte heidnische Poesie leider größtenteils verlorengegangen.
    Nicht bloß die antiken Tempel, sondern auch die Dichtungen, die
    Götter und Helden verherrlichten, wurden vernichtet. Uns bleiben nur
    Bruchstücke, die von der lyrischen Fähigkeit des Volkes Zeugnis
    ablegen; aber genug, um das Pantheon der armenischen Gottheiten
    wiedererrichten zu können. Sie haben weder die Riesenausmaße der
    asiatischen Gottheiten noch die Anmut der griechischen Götter; sie
    sind, wie die Menschen, die sie hervorbrachten, arbeitsam, nüchtern
    und gut.

    Auch in der alten Baukunst des Landes, die so reich war, gibt es eine
    Mischung aus assyrischen und persischen Formen mit hellenischem Stil.
    Das Christentum wurde für die Armenier ein neues Kulturelement, und
    zwar ein nationales. Als Armenien seine politische Unabhängigkeit
    verlor, wurde die Kirche Sinnbild und Hüterin der nationalen
    Überlieferung, etwa wie seither in Polen. Die Literatur wurde jetzt
    teils historisch, teils stark kirchlich, bestand aus religiös
    getönten Chroniken und mystischen Gedichten, behielt aber eine dunkle
    und eigentümliche Poesie. Goldene Hymnen an das Licht finden sich.
    Einen breiten Raum nimmt die dichterisch glutvolle
    Geschichtsschreibung von Moses Khorenazi ein; er hatte in
    Griechenland studiert und kannte die Ilias. Er preist die Tapferkeit
    der Helden. Und er liebt sein Land. Er hat die wundervolle Schönheit
    der Gegend um Van verherrlicht, die von Semiramis zu ihrer
    Sommerresidenz erkoren wurde: "In einem Land, sagte sie, wo das Klima
    so mild und die Luft so rein ist, müssen wir eine Stadt und ein
    königliches Schloß bauen, um inmitten all dieser Herrlichkeit zu
    wohnen."

    Frühere Einfälle - Was die alten Chroniken erzählen.

    Ein anderer berühmter Historiker aus der alten Zeit, Jerisjé, der die
    Kriege der Armenier gegen die Perser erzählt hat, preist in einem
    berühmten Bruchstück die armenischen Frauen, die zu allen Zeiten
    einen seltenen Mut bewiesen haben - unlängst vor einigen Jahren in
    Sassún, als fünfzig junge Frauen sich in einen Abgrund stürzten, um
    nicht den Türken in die Hände zu fallen, und in Palú, wo dreißig aus
    demselben Grund in den Euphrat sprangen, dabei ein Hymne singend.
    Jerisjé hat den Ernst und den Verzicht der Witwen in der harten Zeit
    des Krieges beschrieben.

    Eine Chronik, verfaßt von Vartabed Lasdivertsi, erzählt vom Einfall
    der Tataren und der Perser und schildert, schon vor 900 Jahren,
    Armenien als "nackt am Straßenrand liegend, von allen Völkern mit
    Füßen getreten, aus der Heimat verjagt, als Gefangene und Sklavin".
    Vom fünfzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert war der armenische
    Volksgeist völlig unterdrückt, wie vernichtet. Nur die Kirche stand
    aufrecht. In den Klöstern schlummerten die alten Handschriften. Ein
    Mönch namens Mechitár, der einsah, daß sich in der Türkei keine
    geistige Herdstatt für armenisches Geistesleben bauen ließ, brachte
    die wertvollsten Handschriften nach Venedig und gründete dort jenes
    Kloster San Lázaro, das als eine Art armenischer Universität diente
    und in dem Lord Byron die armenische Sprache zu erlernen begann.

    Die Bewohner dieses Klosters entfalteten eine ungeheure Tätigkeit als
    Übersetzer und machten so ihre Landsleute mit allen geistigen
    Schätzen des alten und des neuen Europa bekannt, von Homer über
    Racine und Alfieri bis zu Schiller. Man begann jetzt, in der
    Literatur das moderne statt des alten Armenisch zu benutzen, und
    daraus folgte die große Blüte des armenischen Geisteslebens im
    neunzehnten Jahrhundert. Junge Männer, die aus Europa zurückkamen,
    brachten die Hervorbringungen der europäischen Romantik mit und
    gründeten in Konstantinopel ein Nationaltheater. Dichter wie Gabriel
    Sundukiánz und später Avetis Nazarbék haben in ihren Schauspielen mit
    Witz und Leidenschaft Spießbürgertum und Vorurteile bei ihren
    Landsleuten angegriffen.

    Der Geist von 1848 wurde in Armeniens Berge verpflanzt. Die
    armenische Volksseele wurde immer mehr europäisiert. Auf russischem
    Boden entstand unter Einfluß des russischen Romans und der
    sozialdemokratischen Arbeiten der Deutschen eine zweite armenische
    Literatur, die das Volk zum Aufruhr gegen die türkischen Übergriffe
    weckte. Nalbandián schenkte dem armenischen Volke sein Freiheitslied.
    Der talentierte Raffi schrieb seinen in Französische und ins Deutsche
    übersetzten Roman "Dsjellal-ed-din", der die Zustände in Armenien um
    das Jahr 1877 schilderte und ein ergreifendes Bild des
    Völkermartyriums damals (und jetzt) bietet. Was wir kürzlich an
    Greueln erlebt haben, die Überfälle und die Gewalttaten, all die
    Jammergestalten, diejenigen, die auf Pfähle gespießt sind,
    diejenigen, die mit glühenden Eisen gemartert werden - alles kommt
    hier bereits vor. Der Roman hinterläßt ungefähr den Eindruck wie die
    Briefe, die in den Jahren 1894 bis 1896 von den Unglücksorten
    geschrieben worden sind. Nazarbéks auf englisch erschienenes Buch
    "Durch den Sturm" behandelt in Romanform den armenischen Aufruhr, den
    die Greuel hervorriefen und der Anlaß zu neuen Greueln wurde.

    Während des geistigen Schlafes des Volkes hatte sich das Volkslied
    stets frisch gehalten und neue Sprosse getrieben, und kein Volk hat
    so moderne Volkslieder wie das armenische, die klagenden Lieder der
    Ausgewanderten, die leidenschaftlichen Verse der Verliebten. Eine
    Jugend wuchs heran, der zugleich das alte Armenien vertraut war, und
    die, modern gesinnt, Einspruch gegen die Ungerechtigkeit der
    Regierung und die Grausamkeit der Kurden erhob. So konnte der
    Patriarch Nersés 1878 Männer mit Vollmacht für die Armenier zum
    Kongreß nach Berlin schicken. Und er hatte Glück, erwirkte den
    Artikel 61, der die Zukunft der Armenier zu sichern schien, den
    Artikel, an dessen unerfüllte Versprechen noch heute jeder Freund der
    armenischen Sache sich klammern muß.

    Europa scheint das unterdrückte Volk unter seinen Schutz genommen zu
    haben. Leider war die Teilnahme der Mächte nicht ernst gemeint. Und
    allein der Umstand, daß die Armenier gewagt hatten, sich an Europa zu
    wenden, trieb die Verbitterung der türkischen Regierung aufs äußerste
    gegen sie. Das armenische Theater in Konstantinopel wurde
    geschlossen, Unterricht in der Geschichte Armeniens, Versammlungen,
    Feste, Vorlesungen und so weiter verboten. Die Presse wurde der
    schärfsten Zensur unterworfen. Einkerkerungen und Verfolgungen kamen
    allmählich häufiger vor als bis dato. Die Kurden wurden gegen die
    Armenier als Kavallerieregimenter unter dem Namen Hamidiéh
    organisiert. Der Sultan verlieh diesen irregulären Truppen seinen
    Namen und ließ sie auf ihre unglücklichen Nachbarn los, um sie
    auszuplündern und niederzuschlagen.

    Als die Armenier sich an mehreren Punkten zu Wehr setzten, hatte man
    den Vorwand, diese ungläubige, das heißt christliche Bevölkerung
    durch Massen-Folter und Massen-Geschlachte auszurotten. Auf dem
    Berliner Kongreß hatte sich die ottomanische Regierung durch Artikel
    61 verpflichtet, die notwendigen Reformen einzuführen, für die
    Sicherheit der Armenier den Tscherkessen und Kurden gegenüber
    einzustehen und den Mächten von Zeit zu Zeit darüber Rechenschaft
    abzulegen. Den unterzeichnenden Regierungen war das Recht eingeräumt,
    die türkischen Verhaltensmaßregeln zu überwachen. Fünfzehn Jahre
    hindurch hielt daraufhin die Türkei die Mächte mit leeren Worten hin.
    Und wenn die Türkei danach, weit davon entfernt, mit der Einführung
    der Reformen anzufangen, sich umgekehrt dazu aufraffte, die
    eindringlichen Noten von den englischen, russischen und französischen
    Gesandtschaften mit der Anordnung eines Massen-Blutbads zu
    beantworten, dann nur dazu ermutigt - ein so eifriger deutscher
    Patriot wie der gutunterrichtete Reisende Paul Rohrbach gibt es zu -,
    weil "das ausgezeichnete Verhältnis zu Deutschland" es der türkischen
    Regierung möglich machte.

    Deutschlands Verantwortung ist entscheidend.

    Einem einhelligen Auftreten der Mächte hätte die Türkei nachgeben
    müssen. Sie wäre von allen Seiten blockiert gewesen. Das
    freundschaftliche Verhältnis zu Deutschland verschaffte ihr Luft. Die
    Blockade, der sie sich ausgesetzt gesehen hätte, war nicht effektiv.
    Sie schlüpfte durch und konnte unverdrossen die Armenier mit
    Bajonetten und Lanzen zum Schweigen bringen, mit scharfen Säbeln und
    glühenden Eisen, mit Vergewaltigung und Brandstiftung. Niemand wird
    leugnen, daß einzelne Deutsche, Männer wie Frauen, sich nach der
    schlimmsten Schreckenszeit hilfreich gezeigt haben. Deutsche
    Opferbereitschaft hat sich der elternlosen Kinder angenommen und sie
    erziehen lassen. Jeder auch kennt Eduard Bernsteins Rede, und jeder
    weiß, daß ein Mann wie Johannes Lepsius, der bezeichnenderweise dafür
    sein Pfarramt verlor, alles dafür eingesetzt hat, seinen Landsleuten
    die Wahrheit über die armenischen Verhältnisse offenzulegen.
    Nichtsdestoweniger wäre ohne das herzliche Verhältnis zwischen dem
    Deutschen Reich und dem türkischen Kabinett das gröbste politische
    Verbrechen des letzten Jahrhunderts eine Unmöglichkeit gewesen.

    Deshalb gilt es, vor allem in Deutschland für das armenische Volk
    Stimmung zu machen. In der berühmtesten altisländischen Saga wirft
    eine Frau den ganz mit Blut überströmten Umhang ihres erschlagenen
    Mannes um einen Verwandten, der nicht recht geneigt ist, für ihre
    Sache Partei zu ergreifen, um ihn dadurch zu bewegen, als Rächer des
    Toten aufzutreten. An Rache denkt hier niemand. Aber wofern es
    möglich wäre, den von geronnenem Blut ganz steif gewordenen Umhang
    der geschlagenen armenischen Opfer dem deutschen Volk um die Schulter
    zu werfen, um es dazu zu bewegen, von der deutschen Regierung
    Sicherheit und Freiheit für die Überlebenden des alten, ehrwürdigen
    armenischen Stammes zu fordern, so wäre das eine nützliche Tat.

    Aus dem Dänischen von Hanns Grössel.

    Der Berg Ararat, an dem die Arche Noah anlangte, ist das geistige
    Zentrum des armenischen Volkes. Gravüre nach einer Zeichnung von
    Taylor, 1886.

    Foto Collection Roger-Viollet
Working...
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