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Sehnsucht nach dem Ararat: Auf der Klosterinsel San Lazzaro degli...

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  • Sehnsucht nach dem Ararat: Auf der Klosterinsel San Lazzaro degli...

    Frankfurter Allgemeine Zeitung
    23. November 2006 Donnerstag


    Longing for Ararat: On the Armenian monastery island of San Lazzaro
    in Venice


    Die Welt ist eine Scheibe;
    Sehnsucht nach dem Ararat: Auf der Klosterinsel San Lazzaro degli
    Armeni vor Venedig;

    Von Katharina Borchhardt



    Die Fahrscheinverkäuferin lugt aus ihrer Bude wie eine Schnecke aus
    ihrem Haus. Sie späht über den Tresen, vor dem sich im grellen Licht
    der venezianischen Nachmittagssonne die Touristen aufgereiht haben.
    Die meisten wollen Tickets zum Lido oder zur Rialto-Brücke. Wer aber
    eine Fahrkarte nach San Lazzaro verlangt, hat bei ihr nur einmal am
    Tag eine Chance. Denn um drei Uhr ist offiziell Besuchszeit auf der
    Insel San Lazzaro degli Armeni, der armenischen Klosterinsel, nicht
    früher und nicht später.

    Das Vaporetto der Linie 20 nimmt einen Schwung Touristen auf, die
    größtenteils zum Lido wollen. Eine Viertelstunde dauert die Fahrt,
    Sonne im Gesicht, eine frische Brise im Haar und im Rücken die immer
    kleiner werdende Silhouette der Stadt. Auf halbem Wege ein
    Zwischenstopp: die Insel San Servolo, bei der nur ein paar Studenten
    aussteigen. Sie wollen zum Seminar, denn hier hat die Internationale
    Universität Venedig eine Dependance. Früher war in den Gebäuden eine
    Irrenanstalt untergebracht. Manchmal sind die Kranken durch das
    Wasser gewatet und haben die armenischen Mönche auf der Nachbarinsel
    besucht. Die Lagune sieht zwar schon aus wie der Anfang des offenen
    Meeres, ist tatsächlich aber nur einen Meter tief.

    Dann erreicht das Boot den kleinen Anleger von San Lazzaro degli
    Armeni. Die rot getünchten Mauern des Klosters leuchten in der Sonne.
    In der Mitte der Insel weist ein in der Spitze gezwirbelter Kirchturm
    wie der Pinsel orientalischer Gelehrter in die Luft. Es ist drei Uhr,
    und die Kirchturmglocke schlägt heiser. Der Wind pfeift durch die
    Zweige der dicht gepflanzten Büsche. Nur im Schutz der Klostergebäude
    herrscht eine fast reglose Stille.

    "Ich liebe das Meer eigentlich nicht besonders", gesteht Vater
    Vertanès, der Abt des Klosters. Er trägt bequeme Schuhe aus einem
    dehnbaren Material und eine schwarze Soutane. Ein breiter brauner
    Ledergürtel sitzt auf seinem kugelrunden Bauch. "Ich liebe die
    Berge." Trotzdem lebt er seit sechsundfünfzig Jahren auf der Insel.
    In welche Richtung er auch läuft: Nach hundert Metern ist das Eiland
    immer zu Ende. Die Welt scheint hier wieder eine Scheibe zu sein und
    San Lazzaro ihr kleiner Mittelpunkt.

    San Lazzaro ist winzig und fast quadratisch. Die Fläche reicht gerade
    einmal für das Kloster der armenischen Mönche, die sich dort vor
    dreihundert Jahren im Exil einrichteten. Die Bewohner haben die Insel
    im Laufe ihrer Geschichte mehrmals künstlich vergrößert. Vater
    Vertanès gefällt ihre aktuelle Größe von dreißigtausend
    Quadratmetern. "Das ist genauso groß wie Armenien, nur in
    Quadratmetern statt Quadratkilometern." Damit besitzt Armenien zwar
    nur einen Bruchteil seiner früheren Ausmaße. Doch immerhin existiert
    es seit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 wieder als
    eigenständiger Staat. Das ist für die Armenier, die Jahrhunderte lang
    ständig überfallen, ausgeraubt und unterdrückt wurden, ungeheuer
    wichtig. Nur ihr Nationalheiligtum fehlt ihnen sehr: der Ararat, an
    dem der Legende nach Noah mit seiner Arche strandete. Heute liegt der
    Berg auf türkischem Gebiet; die Armenier können ihn von der Grenze
    aus sehen.

    "Wir haben gute Kontakte nach Armenien", sagt Vater Vertanès. Gelebt
    hat er dort aber nie. Seine Eltern wohnten zunächst in der Türkei.
    Als die Jungtürken 1915 den Völkermord an der armenischstämmigen
    Bevölkerung verübten, flohen sie nach Frankreich, wo ihr Sohn geboren
    wurde. Der freut sich heute über jeden Besucher, mit dem er
    Französisch sprechen kann, und sagt dann mit Nachdruck: "Je suis
    armenien - citoyen français!" Und das alles in italienischen
    Gewässern. Im Jahr 1717 schenkte der damalige Doge von Venedig dem
    armenischen Mönch Mechitar von Sebasteia das Eiland in der Lagune,
    "für jetzt und alle Zeit", wie es damals hieß. Bis heute erzählen
    sich die Mönche ergriffen, wie 1949 der damalige italienische
    Präsident Luigi Einaudi zu Besuch kam und fragte, ob er seinen
    Ausweis zeigen solle, bevor er die Insel betrete - obwohl sie doch
    offiziell zu Italien gehört.

    Mechitar von Sebasteia hatte mit Anfang Zwanzig einen katholischen
    Missionar kennengelernt, der ihn für die Aufklärung und den
    wissenschaftlichen Fortschritt in Europa begeisterte. 1701 gründete
    der einst armenisch-apostolische Mechitar in Konstantinopel die
    armenisch-katholische Kongregation, den später nach ihm benannten
    Mechitaristen-Orden. Er machte kräftig Propaganda für den
    Katholizismus römischer Provenienz und hatte daher schon nach kurzer
    Zeit allerlei armenisch-apostolische Feinde. Doch ging es ihm weniger
    um religiöse als vielmehr um kulturelle Mission: Er kämpfte mit
    seinem Orden für die Bewahrung der schon damals auf
    Diaspora-Gemeinden verteilten armenischen Kultur und für die
    Vermittlung der europäischen Kultur nach Armenien.

    Das nagte am Stolz der armenischen Patriarchen, die sich nicht nur
    direkt auf die Apostel Judas Thaddäus und Bartholomäus berufen,
    sondern auch stolz darauf sind, daß das Christentum in Armenien schon
    im Jahre 301 eingeführt wurde. Armenien ist damit das erste Land, in
    dem das Christentum Staatsreligion wurde. Mechitar aber hielt es mehr
    mit Petrus. Weil er deshalb um sein Leben fürchten mußte, flüchtete
    er mit seinen Mönchen nach Venedig, bezog mit elf Glaubensbrüdern ein
    Mietshaus in der Nähe des Markusplatzes und freute sich, als der Doge
    ihm die kleine Insel San Lazzaro anbot. Seit die Mechitaristen auf
    der Insel wohnen, trägt sie den Beinamen "degli Armeni".

    Seit je ist es die Aufgabe der Kirchengemeinden, die überall
    verteilten Diaspora-Armenier zusammenzuhalten und ihre Kultur zu
    bewahren. Die aufklärerisch gesinnten Mechitaristen nahmen diese
    Aufgabe besonders ernst. Schon bald nachdem sie ihre windige Insel
    bezogen hatten, begannen sie damit, Bücher herauszugeben und selbst
    zu drucken. Im Kloster stehen noch immer die schweren Druckmaschinen.
    "Maschinen aus Heidelberg", sagt Vater Vertanès stolz, "beste
    Qualität." Mechitar von Sebasteia, der erste Abt des Klosters, war
    selbst ein großer Grammatiker und Sprachforscher. So publizierte er
    umfangreiche Schriften über seine Muttersprache - Bücher, die heute
    im Kloster ausgestellt sind - und übersetzte religiöse Schriften aus
    europäischen Sprachen ins Armenische.

    Seit 1993 drucken die Mönche nicht mehr selbst. Ihr kultureller
    Auftrag hat für die kleine Inselkolonie aber bis heute höchste
    Priorität. Noch immer werden von San Lazzaro aus armenische Schriften
    in alle Himmelsrichtungen verschifft. Mit glänzenden Augen erzählt
    Vater Vertanès, auf welchen Wegen die Mönche einst armenische Bücher
    und Zeitschriften in die Türkei schmuggelten und wie sie zu Stalins
    Zeiten Mikrofilme von wertvollen Handschriften mit den Bibliotheken
    in Eriwan austauschten, der heutigen Hauptstadt der Republik
    Armenien. Außerdem gründeten die Mönche 1946 eine Schule in Venedig,
    in der armenische Kinder ausgebildet wurden. Der Hintergedanke war,
    die Jugendlichen als Missionare der europäischen Kultur wieder in
    ihre Heimat zurückzuschicken. Diese Rechnung ging allerdings nicht
    auf. Nach der Schule blieben die Jugendlichen lieber in Europa oder
    emigrierten nach Amerika. Deshalb wurde die Einrichtung in den
    neunziger Jahren geschlossen. In den Diaspora-Schulen wird die
    armenische Schrift gelehrt, die auch für die Bruderschaft von San
    Lazzaro eine große Bedeutung besitzt. In der Klosterkirche zeigt
    eines der bunten Fenster einen ernsten Mann: Mesrop Maschtoz, den
    Erfinder des armenischen Alphabets, der im Jahr 406 ein Alphabet mit
    sechsunddreißig Buchstaben entwickelte. Auf dieser Grundlage
    übersetzte er die Bibel ins Armenische. Sein Alphabet ist bis heute -
    um zwei Buchstaben erweitert - in Gebrauch und der ganze Stolz der
    Nation.

    Eine großformatige, schwere Bibel voller gekringelter und
    geschwungener Buchstaben liegt aufgeschlagen auf einem Pult vor dem
    Altar. Eine blondierte junge Frau mit einem rosafarbenen
    Playboy-Kettchen wagt sich vor, auch sie eine typische
    Diaspora-Armenierin: Ihre Familie floh vor den Türken in den Libanon.
    Dort besuchte sie die armenische Schule. Bis zum heutigen Tag ist sie
    noch nie in Armenien gewesen. Statt dessen reist sie an ihrem ersten
    Hochzeitstag mit ihrem Mann nach Venedig, weil es dort die Isola
    degli Armeni gibt. Den biblischen Text liest sie flüssig mit kehliger
    Stimme. Die anderen Besucher starren sie beeindruckt an.

    "Auch meine Mitbrüder stammen aus dem Libanon oder aus Syrien", sagt
    Vater Vertanès. "Ich bin hier der einzige europäische Armenier."
    Heute leben nur noch acht Mönche auf der Insel. Als Vater Vertanès
    1950 nach San Lazzaro kam, waren es noch sechzig Brüder. Die Kräfte
    lassen nach, auch wenn Vater Vertanès trotz seiner siebenundsechzig
    Jahre äußerst agil wirkt. Doch nüchtern betrachtet ist es eine Frage
    weniger Jahrzehnte, bis auf San Lazzaro niemand mehr lebt. Das, was
    im Obergeschoß des Klosters an Kunstgegenständen aufbewahrt und den
    staunenden Besuchern freimütig vorgeführt wird, verschlägt einem die
    Sprache: Hunderte Gemälde armenischer und venezianischer Künstler
    hängen dicht an dicht in den Gängen, Bilder von Bergen in
    majestätischer Ruhe und Bilder von einsamen Inseln inmitten
    aufgewühlter Fluten. Da sind Räume voller Vitrinen, Kunstgegenstände
    aus aller Welt von China über Indien und Persien bis nach Afrika,
    Statuen und Gewänder, Möbel und Globen. Und immer wieder Armenisches:
    Porzellan und Münzen, Schnitzereien und Schmuck. Ein Großteil dieser
    Schätze sind Geschenke von Diaspora-Armeniern. Ein Präsent der
    besonderen Art ist eine ägyptische Mumie. Der junge Mann starb vor
    dreitausendfünfhundert Jahren. Er wurde dem Kloster 1825 von einem
    ägyptischen Minister geschenkt, einem gebürtigen Armenier.
    Wahrscheinlich aus wissenschaftlichen Gründen entnahm man der armen
    Mumie das Gehirn und stellt es bis heute separat aus.

    "Dieses Kloster sollte von Anfang an die ganze Welt in sich
    vereinen", sagt Vater Vertanès. Es sollte ein kultureller
    Kulminationspunkt werden. Das Wichtigste sind daher die Bücher. Im
    Kloster gibt es ganze Säle mit bis zur Decke reichenden
    Bücherregalen: einen Saal für die gedruckten Bücher bis 1700; einen
    Saal für die Werke von Mechitar von Sebasteia; einen Saal für
    orientalische Hand- und Druckschriften; einen Saal für prächtig
    illustrierte armenische Handschriften, von denen das Kloster allein
    fünftausend Stück besitzt. Doch wer arbeitet noch mit diesen
    Schriften? Die Produktivität der Mönche hat mit ihrer Zahl und ihrem
    Alter abgenommen. "Wir leiden darunter, daß sich kaum noch junge
    Leute zu einem geistlichen Leben berufen fühlen", sagt Vater
    Vertanès. Da geht es den armenischen Katholiken nicht anders als
    anderen Glaubensgemeinschaften. Und so wächst auf der Insel nur noch
    eines: der Friedhof.

    Information: San Lazzaro ist mit dem Vaporetto der Linie 20
    erreichbar, das zwischen dem Markusplatz und dem Lido pendelt; die
    Haltestelle heißt San Zaccario und liegt unweit des Markusplatzes.
    Die Abfahrt ist um 14.45. Die Insel kann nur im Rahmen von Führungen
    besucht werden. Sie beginnen täglich um 15 Uhr, dauern anderthalb
    Stunden und kosten sechs Euro. Die Kloster-Seite www. mekhitar.org
    wird gerade aufgebaut. Sie ist bislang auf italienisch abrufbar.
    Armenisch und Englisch sollen in Kürze folgen.

    GRAFIK: Die armenische Klosterinsel vor Venedig ist das Herz der
    kulturellen Traditionspflege.
    Foto akg-images/Cameraphoto
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