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Wo Volkermord Noch Ermessenssache Ist

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    WO VOLKERMORD NOCH ERMESSENSSACHE IST
    Von Stefan Haderer

    Wiener Zeitung
    http://www.wienerzeitung.at/meinungen/gastkommentare/433817_Wo-Voelkermord-noch-Ermessenssache-ist.html
    8 febr 2012
    Deutschland

    Frankreich erbost die Turkei mit einem geplanten Gesetz zum Genozid
    an den Armeniern - die fruhere Kolonialmacht sollte selbst einiges
    aufarbeiten.

    Kaum 600.000 Armenier leben in Frankreich - eine geringe Zahl, mochte
    man meinen, und dennoch bilden sie dort die großte Diaspora in Europa.

    Der Einfluss dieser eng vernetzten Gemeinschaft ist relativ groß.

    Frankreichs Prasident Nicolas Sarkozy reicht diese Tatsache schon
    aus, um wenige Monate vor der Prasidentschaftswahl auf Stimmensuche zu
    gehen. Dass es dem Staatsoberhaupt, das sich bisher hauptsachlich durch
    politischen Wankelmut ausgezeichnet hat, dabei um humanitare Absichten
    oder gar um aufrichtiges Mitgefuhl fur eine verfolgte Minderheit geht,
    kaufen ihm nur wenige Wahler ab. Vor seiner Wahl zum Prasidenten
    im Jahr 2007 hatte Sarkozy noch in populistischer Manier gegen die
    algerisch-franzosische Bevolkerung gewettert und knapp gewonnen.

    Durch die scharfe Reaktion des turkischen Premiers Recep Tayyip
    Erdogan kommt nun eine Debatte ins Rollen, die nicht nur Historiker,
    Juristen und Politiker, sondern ganze ethnische Gemeinschaften und
    Staaten spaltet: Ab wann kann von "Volkermord" gesprochen werden,
    um damit in Zusammenhang stehende Verbrechen oder deren Leugnung
    unter Strafe zu stellen? Viel wesentlicher ist jedoch die Frage, wie
    weit in die Geschichte zuruckgegangen werden darf, um "Volkermord"
    feststellen und verurteilen zu konnen. Und hier scheiden sich die
    Geister von Wissenschaft und Politik.

    Dass die in der NS-Diktatur verubten Verbrechen an Millionen von Juden,
    Roma und Sinti ein Genozid waren, steht zum Gluck in allen Staaten
    der Welt außer Frage, auch wenn jede Nation unterschiedlich mit der
    strafrechtlichen Verfolgung von Holocaust-Leugnern umgeht.

    Keineswegs ist die Totungs- und Vernichtungsmaschinerie der
    Nationalsozialisten mit den Graueln in anderen Teilen der Welt
    vergleichbar, die sich seit der Kolonialzeit bis heute abspielen.

    Vor dem Hintergrund der Zwangsvertreibung und Totung der Armenier
    im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 und 1916 ist eine Kritik
    an den kolonialen Gewaltregimen Frankreichs in Algerien allerdings
    vollkommen berechtigt. Mehrere Millionen Algerier wurden seit der
    franzosischen Besetzung Mitte des 19. Jahrhunderts und wahrend des
    Unabhangigkeitskriegs aus rassistischen Motiven getotet, gefoltert,
    verfolgt und vertrieben. Vor dieser historischen Aufarbeitung
    verschließen franzosische Regierungen und Medien bis heute die Augen,
    die europaischen Siedler ("Pieds-noirs") wurden rechtlich geschutzt.

    Doch auch die angloamerikanischen Staaten zeigen an einer offentlichen
    "Volkermord"-Debatte nur wenig Interesse. Bis 2008 konnten sich
    australische Regierungen nicht uberwinden, sich fur die Entfernung,
    Umsiedelung und Umerziehung von mehr als 100.000 Aborigine-Kindern zu
    entschuldigen, die allen Zeugenberichten zum Trotz nach wie vor von
    vielen geleugnet werden. Auch die Amerikaner wollen sich den Vorwurfen,
    Massaker an der Urbevolkerung, den Native Americans, begangen zu haben,
    nicht stellen. "Political correctness" hat eben ihre Grenzen und ist
    besonders fur ehemalige Kolonialmachte noch reine Ermessenssache.

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